„Dionysosstadt“ im Sommerhaus Mousonturm: Ihr Griechen, Meister aller Barbarei | Theater

2021-11-26 03:26:01 By : Mr. Shaohui Zheng

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Zehn Stunden Antike: „Dionysosstadt“ von Christopher Rüping im Sommerbau an der Kaiserlei.

"Satyrspiel" wurde selten so wörtlich genommen. Neun und zwanzig Stunden, nachdem Christopher Rüpings „Dionysosstadt“ um 14 Uhr begann, sausten sechs der acht Schauspieler auf Kunstrasen: drei Frauen und drei Männer mit und ohne Ziegenhörner, geschliffen, in Sportkleidung, ihr „Satyrspiel“ in Fußball. Es dauert vierzig Minuten, unterbrochen von einem Blick in den Himmel und einem Text von Jean-Philippe Toussaint über Zinedine Zidane.

Das „Sommergebäude“ am Kaiserlei-Kreisel, ein Gemeinschaftsprojekt von Mousonturm und Frankfurt LAB, ist ein kühnes Gerüst aus Gerüststangen mit Windschutzfahnen bis zur 3. Logenebene, in der Mitte die sechseckige Bühne mit drei Eingängen. Das Satyrspiel „Was hat das mit Dionysos zu tun?“ Dreht sich nur um einen Moment: Bei der WM-Endrunde 2006 in Berlin bezeichnet ein Fußballer die Schwester des anderen als Hure. schwarze „Karte der Melancholie.

Als „Satyr“ nach viel schwerer Kost nimmt man das gerne in Kauf, zumal die griechische Literatur mit einer Hure begann. Ein solcher Missbrauch flog der schönen Helena um die Ohren. Dem Satyrspiel geht die Dämmerung der Menschheit voraus (Teil 1: „Prometheus“), der Trojanische Krieg (2: „Ilias“, „Troerinnen“), eine Familienfluchseife am Vorabend („Orestie“), eingestreut mit ein Deus ex machina und ein Industriekran als Theatermaschine.

Vieles wird ausgelassen, aber nach all der sphärischen Theatermusik plus Matze Pröllochs Live-Schlagzeug und Udo Jürgens' „Greek Wine“ ist noch ein guter Song dabei. Dass „Burning Down the House“ von Talking Heads als Atriden-Bedienungsanleitung in die letzte Pause fällt, ist passend.

Nachdem Nils Kahnwald die Anwesenden im Prolog dem Publikum gescherzt hatte (die Raucherbank wird erklärt, ein „Zuschauer“ bekommt später den aufgehängten 50-Euro-Schein), zeigt Rüping „Prometheus“, diesen Prototyp der Tragödie von Aischylos, als Ausgangspunkt für „Dionysus Stadt“ (erstmals gezeigt bei den Münchner Kammerspielen 2018, hier die Frankfurt-Offenbach-Fassung). Es ist eher „nach“ dem Original zu denken, gespielt in Übersetzungen von Heiner Müller und John von Düffels mit zusätzlichen Texten wie Müllers Prosa „Befreiung des Prometheus“.

Der kaukasische Felsen, auf dem der Titan (Benjamin Radjaipour) auf Geheiß von Zeus geschmiedet wird, wird zu einem Käfig, der mit dem Schauspieler über dem Kran schwebt. Wo Müller Prometheus Jahrtausende weiß kotzen lässt, bis er die Adlerscheiße liebt und der antike Arbeiterheld Herakles ihn befreien muss (der Selbstmord der Götter folgt), lässt Rüping Milch regnen. Die Figuren fallen in Reihen, aber Hermes ersetzt Rüping durch Zeus, dem Majd Feddah, oft auf Arabisch, eine mediterrane Präsenz verleiht: bärtig, schwitzend, jovial, despotisch, knackende Pistazien, was später auch seinem Hector, Aigisth und Thyest zugute kommt. Maja Beckmann tritt als kuhförmige Io zunächst in einer Hirtentierhaltung auf, bevor sie sich beim Propheten als Erstmutter des Vernichters des Zeus einen Namen macht.

In Teil 2, "Troy: the first war", kippt Troy als quadratische Burg auf dem Kran auf und ab. Stadtähnliche Plätze auf dem Boden werden bald in Schutt und Asche fallen. 3D-Videos und Schlagzeug heizen Konzertbombast und Kampflärm an. Jochen Noch rezitiert zuerst den Schiffs- und Völker-Katalog, der eine zusammenhängende Sequenz von Momenten auslöst: Patroklos' Tod verursacht den Zorn von Achill (Wiebke Mollenhauer), der dazu führt, dass Hectors Leiche um das Schloss geschleift wird, was Achills Tod näher rückt.

Auch im Götterkrieg ist der Weg von Homers stolzen Trojanern zu Euripides' Sklaven kurz. Leider bleiben diese "Trojaner" schwächer als der frühe Pazifismus und Internationalismus des Euripides - "Ihr Griechen, Meister aller Barbarei" - setzt sich nicht durch.

Statt Aischylos '"Oresty" komplett zu spielen, streicht "Oresty: Decay of a Family" das Erinyes-Finale und verwendet lieber drei Stücke des psychologisch realistischen Euripides, den menschenfressenden "Thyestes" Senecas als Insert und Sophokles' "Elektra .". “. Umgekehrt fügt er die Hochzeits-Elektra – Pylades, einen Orestes im Alien-Kostüm, Eimer voller Blutbäder in der offenen Szene und eine Szenerie (Jonathan Mertz, Kostüme: Lene Schwind) hinzu, die untragisch-bürgerlich und ganz zeitgemäß ist: Küche, Badewanne, Sitzen Bereich, Bar, Ehebett, Topfpflanzen.

Sein Mischmasch rekonstruiert die blutige "Familiensaga" als Seifenoper mit Serienjingle und Videovorspann. Nicht zuletzt wird mit Publikumstrinkspielen gefeiert, solange Todesurteile, Todesfallen und Traumatisierungen es nur zulassen. Umso unglaublicher ist Apollos Deus-Ex-Machina-Auftritt mit der Generalpardon. Ein wildes Gebräu, das Zidanes Satyrn umso willkommener macht.

Mousonturm Frankfurt im Sommerbau an der Kaiserleipromenade (Offenbach): 7., 8. August. www.mousonturm.de